Das Schlaraffenland ist tot, lang lebe das Schlaraffenland.

Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom Schlaraffenland? Wo Flüsse voller Milch und Honig fließen und gebratene Hühner direkt in die Münder, der nie hungernden Menschen fliegen. Eine Geschichte, die zweifellos die existentiellen Ängste der Menschen anspricht. Zurzeit ist diese Geschichte jedoch fast in Vergessenheit geraten. Warum? Vielleicht leben wir bereits in einer Art Schlaraffenland. Zumindest in den westlichen Industrienationen ist das Thema Essen eigentlich kaum noch relevant. Jedenfalls nicht das Satt-Werden an sich. Natürlich gibt es immer noch Menschen, die in großer Armut leben. Die Meisten jedoch, können sich alles zu Essen kaufen, was sie brauchen. Und noch mehr. Mikrowellen und Fast Food liefern uns tatsächlich das fertige Essen, nur in den Mund fliegen kann es noch nicht. Ob es nun gesund ist, sei hier mal vernachlässigt. Sicher ist dieser Traum eine Flucht vor den Nöten in einer nahrungsknappen Zeit.

Während Kriegen und Hungersnöten gewinnt die Bedeutung des Traumes vom Schlaraffenland sicher wieder stark an Einfluss. Doch wir, die wir quasi darin leben, wissen, dass es mehr braucht. Ein sorgloses Leben allein stellt uns nicht zufrieden. Es braucht auch eine gewisse Spannung. Nicht dass wir ein sorgenfreies Leben haben. Nein, wir sind weit davon entfernt. Wir zahlen Rechnungen, kriegen Mieterhöhungen und das Benzin wir teurer. Die Probleme sind heute einfach anders. Hoher Stress im Alltag durch den Leistungsfokus der Gesellschaft bereits in Kindergärten und Schulen, Optimierung der Arbeitskräfte für die globale Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen und niedrige Renten. Wie die Hungernden in das Schlaraffenland flüchten, flüchten wir woanders hin. Wir flüchten an einen Ort, an dem die nächste Abrechnung ihre Bedeutung verliert, an dem das Einzige, was mit einer Deadline beschrieben wird, wirklich der Tod ist. Dort gibt es keinen Verkehrslärm, keine Versicherungsbeiträge, und weniger Menschen. Wesentlich weniger Menschen. Es gibt kein Wasser aus der Leitung und keinen Strom. All das, was uns in den Städten von der Natur abschneidet gibt es dort nicht mehr. Wir sind genötigt, wieder mit elementaren Gefühlen wie Kälte und körperliche Erschöpfung umzugehen. Wir schaffen wieder Dinge mit unseren Händen, anstatt virtuell Bits und Bytes hin- und herzuschieben. Wir brauchen dafür keine besondere Ausbildung, oder Empfehlungsschreiben. Geld spielt dort sowieso keine Rolle. Es ist das Schlaraffenland 2.0, welches sich seit Jahrzehnten zu einem Kult entwickelt hat. Regelmäßig lassen sich Menschen in diese Welt fallen. Die Rede ist hier von der Zombieapokalypse. Es gibt eine deutliche unbewusste Sehnsucht danach. Die Illusion, einer der wenigen Überlebenden zu sein, ist natürlich unrealistisch. Der Überlebensprozess als solcher ist jedoch gerade das Interessante daran. Es gibt so viele Geschichten, Filme oder Computerspiele, und immer ist das Interessanteste der erste Teil. Jener Teil, in dem unsere überlebende Person durch einen guten Instinkt (oder einfach nur Glück) die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Natürlich ist so ein Zombie an sich kein Heilsbringer. Er ist eben die Würze, die dem Schlaraffenland fehlt. Zombies sind darüber hinaus sehr einfach. Meist nur in Horden gefährlich, lernt unser Protagonist schnell, wie so ein Zombie auszuschalten ist. Er ist auch unwiderruflich böse. Man muss sich keine Gedanken machen, wenn man ihn tötet. Noch interessanter ist das elementare Gefühl, dass diese Bedrohung verursacht. Wir müssen leise sein, auf dem Boden kriechen, feuchte Erde riechen. Alles um möglichst unbeschadet zu überleben und unentdeckt zu bleiben. Es geht zurück zum rein körperlichen Überleben unserer Träumer, die in Wirklichkeit nur Zahlen und Anträge vor sich haben. Es wäre ein Lebensstil, der uns von Gesundheitsexperten empfohlen wird, aber aus Zeitmangel unrealistisch ist. Viel Bewegung, weniger Essen und Natur genießen.

Wir müssen nur andere Häuser nach Nahrung durchsuchen und wissen jedes kleine Ding zu schätzen, dass wir finden. Wir aus unserer Ding-vollen Konsumgesellschaft freuen uns nach dem Ende der Welt wie kleine Kinder über Benzinkanister, Fackeln, Getreidesamen oder einfach nur ein gut erhaltenes Taschenmesser. Gute Kleidung wird nun durch praktische Werte klassifiziert, nicht durch Namen und Preise. Man braucht nur etwas Glück und kann überall Alles finden. Diese Dinge schlaraffen sozusagen vor sich hin. Ist der erste Hunger gestillt, der Rucksack mit allem Nötigen gefüllt, ist der Träger stolz und es durchfließt ihn tiefe Zufriedenheit, angesichts des nackten Überlebens und der strafferen Muskulatur. Zeitgleich wird die nächste Phase der Geschichte eingeleitet. Der Fokus verschiebt sich in Richtung Langzeitversorgung. Unser Träumer ist vielleicht Teil einer Gruppe und es wird ihm bewusst, dass irgendwann alle Häuser geplündert und alle Konservendosen geleert sind. Es geht nun darum, sich Gedanken über Nahrungsanbau und Jagd zu machen. Immer noch sehr elementar. Keine Zahlen oder Anträge. Es werden Stunden und Tage nur im Wald  oder auf Feldern verbracht. Die frische Luft wird geatmet, man spürt den Wandel der Jahreszeiten und den morgendlichen Nebel. Es wird Alles mit den eigenen Händen geschaffen, dessen Resultate man unmittelbar selbst zu spüren bekommt, und nicht irgendein Werbetexter am anderen Ende der Welt. Keine Termine, nur das Überleben ist wichtig.

In dieser Phase stellen die Zombies nur noch gelegentlich eine Bedrohung dar. Eigentlich kann man mit ihnen inzwischen schon sehr routiniert umgehen. Der eigene Unterschlupf nimmt immer mehr Form an, die Fenster sind vernagelt, und Feuerholz gibt es genug. Auch darauf kann man sehr stolz sein. Es fallen keine Raten an.

An dieser Stelle sollte die Fantasie aufhören, aber die Geschichten gehen meist weiter. Die Menschen raufen sich zusammen und bauen kleine Siedlungen wieder auf. Es mangelt an immer weniger Dingen. Früher oder später geht der kleinen Gruppe die Erkenntnis auf, dass Zombies nicht die größte Bedrohung in dieser Welt sind: es sind andere Menschen, die sich skrupellos im rechtsfreien Raum bewegen. Dadurch wird zwar noch einmal die Spannung ordentlich erhöht, eine Geschichte braucht so etwas wohl eben. Aber in dieser Phase ähnelt der Traum wieder mehr unserer wirklichen Welt. Es bekriegen und streiten sich Menschen auf das Heftigste. Es gibt Intrigen und Verrat. Das hat nichts mehr mit einem Traum zu tun. Es ist lediglich das Resultat dessen, was herauskommt, wenn man die Geschichten zu Ende denkt. Anführer werden zu Politikern und argumentieren. Die Sache verkompliziert sich und ist eigentlich kaum noch eine Flucht aus unserer Welt wert. Natürlich ist unsere Gruppe siegreich und führt den Aufbau der neuen Welt immer weiter voran. Eine Welt die leider immer mehr unserer Wirklichen gleicht.

Natürlich werden das nicht alle Menschen so sehen. Ein gewisser Teil, der vielleicht mit unserer abgestumpften Konsumgesellschaft nicht so gut klarkommt, könnte diese Fantasie jedoch als Gedankenflucht nutzen. Auch wenn die Vorstellung der Zombieapokalypse nicht erstrebenswert und natürlich schrecklich ist, entbehrt sie, trotz des ganzen Horrors und der Gewalt, nicht einem gewissen Reiz. Eine Manifestation des unbewussten Wunsches, wieder echter, elementarer fühlen zu können. Da unsere Gesellschafft jedoch relativ unveränderlich ist, muss man sich in Gedanken nun einmal einen heftigen Grund einfallen lassen, warum sich die Welt ändern muss.

Vielleicht ist das Schlaraffenland immer gerade jener Traum, in den die Menschen ihrer Zeit gedanklich flüchten. So wie es die Filme der 50er und 60er Jahre waren, für die schwere Zeit des Aufbaus nach dem Krieg und die vielen Trümmerfamilien. „Schnulzen“ wie mein Vater sagen würde. In denen zum Schluss für alle Beteiligten immer alles ins Lot kommt. Auch wenn es nur durch Heintjes Stimme passiert.

feuer